Geht es einmal voran regiert der reine Verkehrs-Darwinismus: Wer bremst, verliert. Sobald sich eine kleine Lücke im Gewusel offenbart, muss man ohne Rücksicht auf Verluste hineinschießen, sonst hat man verloren und kommt nie ans Ziel. Schreckhafte Zeitgenossen sollten ohnehin zu Hause bleiben. Hupen gehört hier zum guten Ton und von dem wird ausgiebig Gebrauch gemacht. Deswegen verbauen manche Hersteller in den indischen Modellen besonders standfeste Exemplare. Die lärmende Sonate aus unzähligen Hörnern schallt ständig durch die überfüllten Straßen und malträtiert die Gehörgänge aus allen Richtungen. Bald ist die Überlebenstaktik klar: Nicht darum kümmern und draufhalten, auch wenn man in einem nagelneuen GLC sitzt, der in Bangalore montiert wird.
Großer Durst nach individueller Mobilität
Eigentlich ist es ein Wunder, dass bei diesem Chaos relativ wenig Unfälle passieren. Doch wie so oft, beherrschen auch hier die Protagonisten die Anarchie. Jeder passt auf den anderen auf. Zudem fließt der Verkehr ziemlich langsam. Nach gut zehn Minuten hat man sich an den Trubel gewohnt und knallt genauso mit rein, wie alle anderen. Dass sich die Kollateralschäden in Grenzen halten, beweisen auch die vielen unversehrten Vehikel. Da sind in Paris mehr verbeulte Karossen unterwegs.
Der Durst nach individueller Mobilität ist groß, pro Jahr werden 14 Millionen Motorräder und etwa vier Millionen Autos verkauft. Dagegen nehmen sich die 15.000 Mercedes fast verschwindend gering aus. Doch die Fahrzeuge mit dem Stern kennt in Indien jeder "Es ist das Fahrzeug der Staatsoberhäupter und der Wohlhabenden", weiß der Mercedes-Indienchef Roland Folger. Die Big Player sind Maruti-Suzuki, Hyundai und natürlich Autobauer, wie Toyota oder Tata. Jeder, der 18 Jahre alt ist, darf den Führerschein machen. Da werden die Fahrschüler gleich ins kalte Wasser geschmissen: Erst gibt es die Fahrerlaubnis 40 Tage auf Probe, danach gibt eine Fahrprüfung mit Theorie und Praxis. Um die Verkehrsregeln bringt man sich übrigens selbst bei oder besucht, wie bei uns, den Unterricht in der Fahrschule. Das Standesbewusstsein ist hoch: Da kein Sohn ein höherwertiges Fahrzeug als der Vater fahren sollte, legen die Kinder oft zusammen, um dem Patriarchen ein angemessenes Vehikel zu kaufen, nur um dann selbst zuschlagen zu können. Die Zeremonie beim Autokauf ist pompös. Bei der Übergabe bekommt das Fahrzeug Blumen auf die Karosserie und der Fahrer einen Schal. Obendrauf gibt es noch eine Genesha-Statue, der zweitälteste Sohn Shivas (eine der drei indischen Haupt-Gottheiten) ist für die Hindhus so etwas wie hierzulande die Christopherus-Plakete.
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- Geschrieben von wolfgang-gomoll
- Veröffentlicht: 18. November 2016