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Vollgepackt bis unters Dach
Erprobungsfahrten sind ein essentieller Teil der Entwicklung von Automobilen. Vor dreißig Jahren waren Improvisation, Erfahrung und nicht zuletzt auch jede Menge Mut gefragt. Vor allem bei den Wintertests auf den zugefrorenen Seen nahe des Polarkreises war der Tod ein ständiger Begleiter.

Vollgepackt bis unters Dach

Bei der Erprobung des BMW 850i wurde auch ein fahrfähiges Laminat-Fahrzeug verwendet (Foto: press-inform / Röscheisen)

Erprobungsfahrten sind ein essentieller Teil der Entwicklung von Automobilen. Vor dreißig Jahren waren Improvisation, Erfahrung und nicht zuletzt auch jede Menge Mut gefragt. Vor allem bei den Wintertests auf den zugefrorenen Seen nahe des Polarkreises war der Tod ein ständiger Begleiter.

Gunnar Fjellström hat in seinem Leben einiges erlebt. Der 78jährige Schwede mit den freundlichen, wachen Augen ist dabei, als die Deutschen Arjeplog im Sturm übernehmen. Es fängt alles ganz harmlos mit einer Plauderei an seiner Tankstelle an. Eine Porsche-Gruppe, bestehend aus einer Handvoll Männer und zwei Fahrzeugen kommt mit dem aufgeweckten Skandinavier ins Gespräch. Die eingeschworene Gruppe aus Zuffenhausen sind unterwegs auf Erprobungsfahrt und die schneesichere Gegend nahe des Polarkreises eignet sich ideal für Test bei tiefen Temperaturen. Wenig später richtet Gunnar dann die erste kleine Werkstatt ein. Heute sind es riesige Hallen und Nordschweden wird zum Winter-Testmekka der Automobilindustrie.

Mühsame Grundlagenarbeit

War es damals eine verschworene Einheit, die zwei bis drei Wochen auf Schnee testete, wird Nordschweden heute ein halbes Jahr belagert. "Vor gut dreißig Jahren waren die Seen schon Anfang Oktober zugefroren, heute darf man froh sein, wenn man Anfang Januar fahren kann", sagt Gunnar und schaut dabei etwas besorgt. In den Anfangszeiten der Wintertestfahrten, war die Gefahr ein ständiger Begleiter. Beim Präparieren der Erprobungsstrecken auf den zugefrorenen Seen ist nicht selten die Maschine eingebrochen und oft konnte der Fahrer nur unter größten Einsatz gerettet werden. Das änderte aber nichts an der Packt-an-Mentalität: Einer der Präparierer, der mit Mühe und Not aus dem Gewässer gezogen worden war, verlangte nur eine Flasche Schnaps, leerte diese fast vollständig und arbeitete dann pitschnass weiter. Manchmal kam auch jede Hilfe zu spät und Mensch und Gerät konnten erst im darauffolgenden Sommer geborgen werden. Aber auch für die Fahrzeugtester galt: Nicht anschnallen und wenn das Auto einbricht, nichts wie raus aus dem Fahrzeug. "Als wir den 959 getestet haben, waren wir uns nicht ganz sicher, wie dick das Eis auf dem See ist. Also haben wir einen See gewählt, der nur vier bis sechs Meter tief war. Nicht dass das im Falle des Falles was geholfen hätte", erinnert sich Porsche-Tester Dieter Röscheisen.


Anfang der 1980er liefen die Erprobungen noch hemdsärmeliger ab. Wo heute Ingenieure mit Laptops auf dem Beifahrersitz Daten kontrollieren, standen früher Messinstrumente und füllten das Auto bis unters Dach. Damals wurden Testdaten an monströsen Computern ausgewertet und das Peiseler-Rad, ein Fahrradreifen, mit dem die Wegstrecke gemessen wird, hing an jedem Testfahrzeug. Damals programmierte man Eproms so lange bis man zufrieden war, steckte diese ins Steuergerät und fixierte die Speichereinheiten mit Hartz, damit sie bei Erschütterungen nicht wieder herausfielen. Deshalb waren unzählige Testfahrten nötig, um die Resultate zu erzielen, die man sich wünschte. Wo heute Simulationen schon die Grundlagenarbeit leisten, mussten diese Werte vor 35 Jahren noch mühsam erfahren werden - im wahrsten Sinne des Wortes. Thomas Ammerschläger hat dazu eine eindeutige Meinung: "Wenn jemand meint, dass die Entwicklung von Fahrzeugen nur mit Simulationen zu machen ist, der unterschätzt die Komplexität des menschlichen Empfindens. Da geht es um Nuancen", sagt der ehemalige Technische Direktor der BMW Motorsport GmbH, der unter anderem an der Entwicklung des M3 E30 beteiligt war. "Das Umsetzen der Messwerte kann kein Computer übernehmen, da zeigt sich, wie gut man ist, oder eben nicht." Das wusste auch Audi und hat deswegen Freddy Graf Kottulinsky engagiert, um den Ingenieuren das Interpretieren von Reaktionen des Testfahrzeugs beibrachte. Der adlige Sieger der Rallye-Paris-Dakar hatte unter den Technikern aus Ingolstadt bald den Ruf eines strengen, aber sehr guten Lehrers.

Aufräumen und putzen

Die-BMW-Entwickler einte laut Ammerschläger damals ein Ziel: Zusammen anpacken und das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Das war bei Porsche nicht anders. Deswegen hörte das Testen nicht in Nordschweden auf. Die Zuffenhausener Truppe entschloss sich kurzerhand mit dem Prototypen des Porsche 928 an die russische Grenze zu fahren. Das Problem war nur, dass es hinter der finnischen Stadt Rovaniemi damals keine Möglichkeit mehr gab, bleifreien Sprit zu tanken, den der Porsche benötigte. Trotzdem machten sich die Tester auf gen Finnland und schließlich Russland. In der Nähe der russischen Grenze trafen die Techniker auf paar betrunkene Gestalten, die mitfahren wollten. "Einer behauptete sogar Gorbatschow sei sein Onkel", erinnert sich Dieter Röscheisen. Als die Gruppe den Prototypen des Porsche 928 vor einem Grenzschild ablichten wollte, blieb das Auto im hohen Schnee stecken. Die wagemutige Combo hatte auf einmal Angst, von den sowjetischen Grenzern aufs Korn genommen zu werden, und zog den havarierten Porsche mit einem Abschleppseil schleunigst aus der Gefahrenzone. Damit war das Abenteuer aber noch nicht vorbei: Der bleifreie Sprit zurück nach Rovaniemi wurde knapp und nur unter Stoßgebeten sowie mit extrem verbrauchsschonender Fahrtweise erreichte der Konvoi die rettende finnische Tankstelle.

Die Messtechnik füllte das Fahrzeug aus (Foto: press-inform / Röscheisen)
Erprobung Porsche 1984 in Schweden (Foto: press-inform / Röscheisen)
Auch der Iltis wurde Testfahrten unterzogen (Foto: press-inform / Audi)
(Foto: press-inform / BMW)
(Foto: press-inform / Röscheisen)
(Foto: press-inform / Röscheisen)

Auch die Stimmung in den kleinen schwedischen Dörfern nahe der Teststrecken hat sich verändert. Vor 35 Jahren standen die Wagen offen vor den ebenfalls nicht zugesperrten Häusern der Schweden, die Zimmer an die Automobilgäste vermieteten. Heute ist das nicht mehr so. Das Miteinander hat sich ebenfalls verändert. Früher hörten die Tester samstags um 13 Uhr auf zu arbeiten und genehmigten sich auch dann gerne mal das eine oder andere Glas zusammen mit den Einheimischen. Heute wird durchgearbeitet, effizient, nüchtern und zielorientiert. Alleine die Reifenfirmen, die ihre Produktanzahl aufgrund der vielen Nischenfahrzeuge vervielfachen mussten, nutzen jede Sekunde und wenn das Wetter zu warm wird, werden Nachtschichten gefahren. Im Sommer hilft man sich mit 800 Meter langen Eishallen, in denen der Schnee vom Winter verwendet wird. Dort fahren Pirelli, Conti & Co. Beschleunigungs- und Bremstests. Die Einheimischen sehen das Treiben mit gemischten Gefühlen. Auf die Frage, was die Nordschweden denn tun würden, wenn die Automobilisten Arjeplog wieder verlassen haben, hat Gunnar Fjellström eine knappe Antwort. "Tja, aufräumen und putzen."

Autor: Wolfgang Gomoll, Arjeplog  Stand: 07.04.2017
Fotos: press-inform / Röscheisen  

 

(Foto: press-inform / Röscheisen)
(Foto: press-inform / Röscheisen)
(Foto: press-inform / BMW)
(Foto: press-inform / BMW)
(Foto: press-inform / BMW)
(Foto: press-inform / BMW)